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Kalenderblatt aus dem Stadtarchiv RK 5/23

Vor 200 Jahren empfing Goethe erstmals Johann Peter Eckermann

Johann Peter Eckermann, gezeichnet von Johann Joseph Schmeller.Johann Peter Eckermann, gezeichnet von Johann Joseph Schmeller.

„Vor wenigen Tagen bin ich hier angekommen, heute war ich zuerst bey Goethe. Der Empfang seiner Seits war ueberaus herzlich und der Eindruck seiner Person auf mich der Art, daß ich diesen Tag zu den gluecklichsten meines Lebens rechne.“ Nachdem sich Johann Peter Eckermann (1792–1854) am Vortag angemeldet hatte, stand er zur Mittagszeit des 10. Juni 1823 vor seinem Idol. „Ich war gluecklich verwirrt in seinem Anblick und seiner Naehe, ich wußte ihm wenig oder nichts zu sagen“, notiert er, und: „[…] ich vergaß das Reden ueber seinem Anblick, ich konnte mich an ihm nicht satt sehen. Das Gesicht so kraeftig und braun und voller Falten und jede Falte voller Ausdruck. Und in Allem solche Biederkeit und Festigkeit und solche Ruhe und Groeße!“ Ehrfürchtig diente Eckermann dem Dichter von nun an unentgeltlich (sieht man von den gelegentlichen Einladungen zu Tisch ab) – das eigene Fortkommen, die eigene Familie bis an den Rand der Selbstaufgabe vernachlässigend.

Der in Leipzig 1836 erschienenen Erstausgabe der „Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens“ sind unsere Zitate entnommen – in der originalen Orthographie. Manche Passagen wurden in den immer wieder gedruckten späteren Ausgaben sprachlich angepasst, geglättet, gelegentlich auch gekürzt. Auch haben einige der von Eckermann verwendeten Begriffe mittlerweile eine Bedeutungsverschiebung erlebt. Wenn Goethe als „bieder“ beschrieben wird, klingt das heute eher abfällig, das Wort wird als Synonym für altbacken, manchmal sogar einfältig oder spießig benutzt. Um 1800 aber war es positiv besetzt. Adelungs Grammatisch-kritisches Wörterbuch (1793) verzeichnet unter dem Terminus Bedeutungen wie „fromm, tugendhaft, rechtschaffen, ehrlich, tapfer“.

Nicht wenige zeitweilige Begleiter Goethes haben nach dessen Tod ihre Erinnerungen an ihn zu Papier und zum Druck gebracht. Die meisten dieser Bücher sind jedoch heute nur noch Spezialisten bekannt. Eckermann aber hat eine Fülle von Äußerungen des Dichters überliefert, die uns, auch wenn es sich nicht um wortwörtliche Zitate handelt, einen besonderen Zugang zu seinem Denken in seinem letzten Lebensjahrzehnt ermöglicht. Und nicht zuletzt hat Eckermann Goethes Gedankenwelt zu Popularität verholfen. Dennoch ist er oft verspottet worden – und würde vielleicht sogar heute als „bieder“ bezeichnet werden, wenn dieses Wort überhaupt noch Verwendung fände. Schließen wir lieber mit einem Urteil, das Nietzsche in „Menschliches, Allzumenschliches“ über den „Schatz der deutschen Prosa“ gefällt hat: „Wenn man von Goethes Schriften absieht und namentlich von Goethes Unterhaltungen mit Eckermann, dem besten deutschen Buche, das es gibt: was bleibt eigentlich von der deutschen Prosa-Literatur übrig, das es verdiente, wieder und wieder gelesen zu werden?“ – Hätte Goethes Jünger, der nach dem Tode des Meisters zum Sonderling wurde, wenigstens geahnt, dass die von ihm notierten „Gespräche“ einmal weltberühmt werden sollten!